Die post-modernen Banden des 21. Jahrhunderts Born to die – Über die Ultras

Gesellschaft

Unter Linken sind die Ultras wegen der teils antifaschistischen Einstellung beliebt. Aber der antiautoritäre Gestus der erlebnisorientierten Fussballfans zieht auch Nazis und rechte Durchschnittsjugendliche an.

Ultras von Olympique Marseille im Cupfinal von 2006 gegen Paris St. Germain.
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Ultras von Olympique Marseille im Cupfinal von 2006 gegen Paris St. Germain. Foto: TaraO (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)George Groutas (CC BY 2.0)Vberger

18. Juni 2015
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Doch nicht nur die jeweiligen politischen Positionen sollten Objekt linksradikaler Kritik sein, sondern die Form, in der sich die konformistische Revolte von Banden wie den Ultras abspielt. Denn die Flucht in den Ausnahmezustand und das Hineinwerfen in den selbst gewählten Gang-War befriedigt ein tiefes Bedürfnis des krisengeschüttelten, bürgerlichen Subjekts.

Über die Ultras als besserer Leviathan und das Bandenwesen des Spätkapitalismus.

I

Der Film Hooligans pointiert unfreiwillig die Funktionsweise der Ultras – bei aller Bekümmerung es handle sich bei diesen nicht um jene abgestumpften Schläger. Der junge Protagonist Matt Buckner wird von der Harvard University wegen eines Drogendeliktes geschmissen, das ihm sein Mitbewohner untergeschoben hat. Armer Matt, der noch nicht begriffen hat, dass der Survival of the Fittest der spätkapitalistischen Gesellschaft nicht gleich und gerecht ist, sondern Härte verlangt gegen sich selbst und andere. Doch auch diese Soft Skills können – das richtige Training und Peer-Assessment vorausgesetzt – dem frischgebackenen Verlierer des Konkurrenzkampfes um die gesellschaftliche Beute vermittelt werden.

Der von Leben und Menschen im US-amerikanischen Normalvollzug enttäuschte und gelangweilte Fast-Akademiker flieht ins europäische London zu seiner Schwester, deren Schwager ihn fortan in das raue Leben seiner Gang von fanatischen Fussballfans, der Green Street Elite, einführt. Und nachdem das ausgestossene Männchen die ersten Initiationsriten und damit auch den anfänglichen, noch von der verschmähten Zivilisation herrührenden Ekel überwunden hat, meint er das ihm so überflüssig erschienene Leben wieder zu spüren. Der Schmalz von Kameradschaftspathos beim Fussballspiel von West Ham United und der Geschmack des eigenen Blutes beim Kampf danach geben ihm die Versicherung: Ja, das ist das wirkliche Leben.

Nach dieser Frischzellenkur – die Kosten bezahlt die Firma, namentlich der Green Street Anführer Pete mit seinem Leben – kehrt der zum spätkapitalistisch-männlichem Subjekt mutierte nach Amerika zurück. Und weil er nun weiss wie diese Gesellschaft funktioniert, erpresst er durch Faustrecht und Taschenspielertricks jenen Mitbewohner, der ihn um seinen Universitätsplatz geschnitten hat. Die Härte, die die Welt ihm antat, weiss er gegen sich selbst und als verhärtetes Subjekt gegen die Welt zu wenden. Jedes Assessment Center hätte wohl seine Freude an der Evaluation dieser Schulung.

II

Dabei ist es egal, dass Ultras mehr sein wollen als Matt mit seinen ordinären Hooligans. Genau in diesem „mehr-als“ besteht der sinnstiftende Nimbus dieser (post)-modernen Banden. Die Mentalita Ultra' soll eben mehr sein als das belanglose Dasein eines Fussballfans, soll auch mehr sein als der schnöde Mammon der Fussballindustrie, sie soll keine Freizeitbeschäftigung, sondern Lebensgefühl sein. „Es ist wichtig eine starke Gruppe zu schaffen, die aus ähnlich denkenden und fühlenden Menschen besteht, die gegen alle äusseren Einflüsse zusammenhält[…], während in der heutigen Gesellschaft Schlagwörter wie Freundschaft, Treue und Ehrlichkeit von Wörtern wie Gewinnoptimierung und Effizienz verdrängt werden“ [1], schreiben die Ultras Frankfurt im Jahr 2007. Der Gesellschaft wird das bürgerliche Subjekt und ihm selbst wird die permanente Mobilisierung im Konkurrenzverhältnis überflüssig.

Seine strukturelle Überflüssigkeit im automatisierten, postfordistischen Kapitalismus, seine dauerhafte Krisenhaftigkeit, in der es sich kontinuierlich – ob real oder drohend – im Jobcenter als Mitglied der bürgerlichen Zwangsveranstaltung beweisen muss, lassen es selbst zur Weltflucht antreten. Ob sich das nun halbwegs reflektiert wie bei den Ultras aus Frankfurt ausspricht oder unbewusst abläuft; ob es sich bei ihnen um verwahrloste Nazis oder subkulturelle Grossstadtantifas handelt, ist dabei gleichgültig für die Formbestimmung dieser Weltflucht. Der ewigen Monotonie, die sich in Schule, Universität, Lohnarbeit oder auf dem Abstellgleis einstellt, weil die Menschen spüren, dass es sich dabei jeweils nur um die konkreten Ausformungen des immer gleichen Prinzips der Wertverwertung handelt, tritt das erlebnissüchtige Lebensgefühl der Tifosi entgegen. Ob beim gemeinsamen Malen der Choreografien und Graffitis, bei den nächtlichen Überfällen in verfeindeten Städten, bei den ewigen Hatzjagden und kurzen Massenschlägereien im Vor- und Nachfeld der Spiele oder beim Abbrennen der Pyrotechnik mit nacktem Oberkörper und Singen der Lieder.

Die Ultras schaffen sich eine Welt, in der es auf den Einzelnen tatsächlich noch ankommt. Weil sich die Menschen nur noch über die Waren verständigen, sich völlig vereinzelt und verfeindet als Konkurrenzsubjekte gegenübertreten, suchen sie die Nestwärme der Gemeinschaft, in der anachronistische Werte wie Treue und Ehre noch etwas zu zählen scheinen. Den vermittelten Verhältnissen, die Ohnmacht produzieren, stellen sie ein Gangland gegenüber, das noch klare Gegner kennt und daher Allmacht zum Ziel hat. Dem Verlorensein des Subjekts antworten sie mit provinziellem Lokalpatriotismus. Die verwaltete Welt produziert Langeweile, einen Mangel an Erfahrung, die nicht entfremdet ist. Das ist der Grund, warum die Kinosäle sich füllen, wenn Matt Buckner bedeutungsschwanger vom ersten Faustschlag erzählt, der sich in sein Gesicht drückt so als würde es sich um eine spirituelle Offenbarung handeln. Deswegen essen Ultras keine Bratwurst im Stadion, sondern suchen nach Fun und Action, Event und Eigentlichkeit, nach „wahre[r] Atmosphäre und ehrlichen Emotionen“ (Harlekins Berlin). Sie proben den Ausnahmezustand, wenn sie durch den Nebel der Rauchbomben den Gästeblock stürmen.

Die gefühlte Gefährlichkeit des Daseins als Individuum, in die man sich begibt, wenn wieder einmal Bengalo-Geschosse durch das Stadion fliegen, wird dem prekären Zustand des Subjekts vorgezogen. Natürlich soll dabei niemand sterben, nicht mal ernstlich verletzt werden. Dafür wähnen sie sich, die sich nicht selten aus Gymnasiasten und Studenten rekrutieren, als zu aufgeklärt. Die Todessehnsucht, die der einzige Weg aus der Herrschaft der toten Waren scheint, bleibt dennoch. Sie sublimiert sich in meist harmlose Bandenspiele. Doch die Subjekte können der Monotonie im Ultra-Dasein nicht entkommen – sie können sie nur verdoppeln. Weil man ihr wiederum entfliehen muss, ist der Film Hooligans durchaus beliebt unter Ultras.

III

Der Ursprung der Ultras liegt im Italien der 70er Jahre. Dort bilden sich Gruppen junger fanatischer Fussballfans in den Stadien, zu allererst die Fossa dei Leoni des AC Mailand. Die Grüppchen sind ein Auslaufprodukt der zerfallenden 68er Studenten- und Arbeiterproteste. Die jungen Männer verbindet die gemeinsame Zeit in der Protestbewegung und ihre Freundschaft im Stadion. Ästhetik und Methoden werden den politischen Aktionsformen auf der Strasse entlehnt. Fahnen, Spruchbänder, Rauchbomben und Trommeln – all das kennt man schon von den Demonstrationen der Studenten und Arbeiter und nun sieht man es auch in den Stadien. Die verhältnismässig komplexen Gesänge greifen Melodien politischer Lieder wie Bella Ciao auf.

Erklärtes Ziel der Ultras ist eine ununterbrochene akustische Unterstützung der Mannschaft, ganz unabhängig von Spielstand, Spielverlauf und Laune der Zuschauer. Damit grenzen sie sich von den von ihnen verachteten normalen Zuschauern ab, die lediglich spielbezogen und affekthaft das Geschehen auf dem Platz kommentieren und nicht zu Unrecht gleichen die Gesänge der Ultras damit den formelhaft und emotional-emotionslos gerufenen Sprüchen linker Berufsdemonstranten oder den Durchhalteparolen der Kommunistischen Parteien, die das eigene Scheitern nur mit steinernem Revolutionskatechismus beantworten konnten. Bald schon übernehmen sie die Organisationsformen der zerfallenden Bewegung. Sie treffen sich mehrmals die Woche, denn die aufwendige Unterstützung im Stadion erfordert Vorbereitung.

Der grosse Aufwand der Choreografien, das notwendige Reglement für die gemeinsam erzeugte Stimmung, die beginnende Verschärfung der Feindschaften zwischen den Ultra-Gruppen und die konspirative Planung illegaler Aktionen fordern einen festen Zusammenhalt. Die Gruppe muss sich auf den einzelnen verlassen können. Im Notfall zählt, dass du nicht weggerannt bist, als es bitter wurde. Ob du Schwein oder Mensch bist, zeigt sich daran, ob du die Backe hingehalten hast, wenn es notwendig war.
Ultras von Olympique Marseille im Cupfinal von 2006 gegen Paris St. Germain.

Bild: Pyrotechnik im Toumba Stadion von Thessaloniki im griechischen Cupfinal von 2009 zwischen PAOK Thessaloniki und Olympiakos Piräus. / George Groutas (CC BY 2.0)

Die Abfallprodukte der 68er Bewegung sind vielfältig. 1970 gründen sich in Italien die Roten Brigaden, die 1978 den italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro ermorden werden. Das Konzept Stadtguerilla macht ernst mit dem Bandenwesen und gerade deshalb ist es Ausdruck eines sich völlig konsolidierenden Kapitalismus. Die philosophische Unterfütterung bietet Régis Debray, ein französischer Student aus guter Familie, der mit Che Guevara in Bolivien kämpfte und das Konzept der Guerilla 1967 in seinem Buch Revolution in der Revolution nach Europa bringt. [2] Dort spottet er über die westliche Zivilisation als einem „lauwarmen Brutkasten, der kindisch macht und verbürgert“ und aus dem es im „Kampf des Guerillero gegen sich selbst“ auszutreten gälte. Der Selbstmord des bürgerlichen Subjekts soll in einer Inkarnation als Revolutionär münden, dem im physischen Überlebenskampf die Erkenntnis zu Eigen geworden ist: „Das Interesse der Gruppe ist auch das jedes Einzelnen – und umgekehrt.“

Begeistert spricht er über diesen „Traum á la Rousseau“ und über die Gemeinschaft und Disziplin der Guerilleros, die „von einer Unerbittlichkeit sind, die der Contrat social nicht kennt“. In genau dieser Form sozialer Gemeinschaft, in der das Besondere notwendig ins Allgemeine gepresst wird, sieht Debray „die handelnden Subjekte der neuen Gesellschaft“. Der Contrat social der bürgerlichen Gesellschaft komme nicht zu seiner Geltung. Dies sei das Problem. Nicht, dass er das Individuum noch im Bann des kollektiven Allgemeinen hält. Was bleibt ihm da noch weiter, als euphorisch Fidel Castro zu zitieren: „Woher nehmen sie […] so viel Mut und so viel Selbstverleugnung?“

Das Schöne an der Guerilla ist: Die tödliche Gefahr, die zur unmittelbaren Entscheidungssituation der Subjekte drängt, muss nicht fabuliert werden, sie ist real vorhanden. Und die Gemeinschaft braucht sich kein hanebüchenes Objekt suchen, der es seine Treue und sein Leben opfert. Sie bezieht diese Verpflichtung aus sich selbst und dem physischen Überleben ihrer Mitglieder heraus. Die Ultras lassen es freilich nicht oft soweit kommen. Fünf Todesfälle gibt es bis zum Ende der 80er Jahre in Italien. Nach Jedem interveniert die Szene entsetzt, versucht sich selbst zu regulieren, aber der Drang nach Fun und Action lässt sich nicht so recht verbieten. Die überflüssigen Subjekte suchen vergeblich den Ausstieg aus der Gesellschaft – ihr Ticket ist der Fussball und das Leben im selbst geschaffenen Contrat social der Ultra Gruppen.

IV

Anders als bei den Guerilleros steht für die Ultras nicht die befreite Gesellschaft auf der Agenda, sondern die Befreiung der Kurve. Die Selbstverwaltung des eigenen Gebietes ist ein Erbe der Studentenbewegung. Der auch von Linken oft bewunderte Antiautoritarismus, der sich in rebellischer Symbolik und aufmüpferischem Verhalten äussert, ist aber nur der Anstrich für ein Programm, das statt gegen jede Herrschaft zu rebellieren, die eigene setzen will. In diesem Sinne identifizieren sie sich – frei nach Adorno – mit der Macht, von der sie geschlagen werden. Die Ultra Gruppen spielen mit dem Pathos der Marginalisierten nur um selbst hegemonial zu sein. Sie wollen sich von der Gesellschaft scheiden, doch können ihr nicht entkommen – weswegen sie sie verdoppeln. In den Gruppen herrschen strenge Regeln. Bist du bereit dein Leben zu geben – dann stell es unter Beweis.

Jede Gruppe hat ihre Vorfeldorganisation, die die jungen Bewerber nach Kriterien der Leidens- und Hingabefähigkeit für die Gemeinschaft aussiebt. Über die Mitgliederzahlen wird streng gewacht um die soziale Kontrolle zu gewährleisten, die die Einhaltung der gruppeneigenen Regeln versichert. Wer dabei sein darf, bekommt die Gangwear mit der er sich von nun an zugehörig fühlen darf. In einer Rhetorik, von der man nicht sagen kann, ob sie Faszination oder Verzweiflung ausdrücken soll, berichtet ein junger Ultra: „[Du gibst alles:] dein Taschengeld geht für Tickets und Fahrten drauf, deine Fehlstundenanzahl geht ins Unermessliche, genauso wie die Zahl der Stunden, die du für Choreografien und ähnliches aufwendest. Deine Freundin findet das alles dann auch irgendwann scheisse und macht sich von dannen.“ [3] Dem Unverständnis der Umwelt kann nur mit immer tieferem Engagement für die Gruppe begegnet werden. „Die völlige Brechung der Persönlichkeit wird verlangt[…].

Das Individuum muss sich aller Macht begeben, die Brücken hinter sich abbrechen. Als der echte Leviathan fordert das Racket den rückhaltlosen Gesellschaftsvertrag.“, schreibt Max Horkheimer in seiner Schrift Die Rackets und der Geist. Das Mitglied soll in seiner Funktion in der Ultra Gruppe aufgehen. Die Distanz der Menschen lässt sie in die Gemeinschaft fliehen, doch sie scheitern, weil sie sich dort nicht als besondere Menschen anerkennen, sondern wiederum nur als Vollstrecker eines Prinzips. Genau darin verdoppelt der vermeintliche Ausbruch die bestehende Gesellschaft. Nur das er sie noch zuspitzt und das Fünkchen Privatheit, das die bürgerliche Gesellschaft noch unangetastet liess mit der Einforderung eines Lebensgefühls verschluckt.

Die Bewegung der Ultras ist selbstreferenziell. Ihr geht es nicht um den Erfolg des Vereins. Einige Ultra Gruppen geben sogar offen zu, dass sie sich den Aufstieg der Mannschaft nicht wünschen, weil eine höhere Liga wegen verstärkten Sicherheitsbedingungen ihrer narzisstischen Inszenierung abkömmlich wäre. „WIR sind das Spiel und der Verein“ schreiben die Frankfurter Ultras. Und in einer Motivations- und Belehrungsansprache des Dresdner Capos, die irgendwo zwischen paternalistischer Autorität und mittlerem Management-Sprech liegt, schwört er seine Schafe ein, weder auf die Spieler zu hören, die würden eh nur Karriere machen, noch auf den Vereinsvorstand, das seien Leute aus dem Westen, sondern lediglich auf die Autorität der eigenen, älteren Mitglieder. Spätestens hier ist klar, dass die Ultras sich selbst genug sind. Der selbstzweckhaften Verwertung des Wertes stellen sie die um sich selbst rotierende gemeinschaftliche Therapiegruppe der überflüssigen Subjekte gegenüber, die mit projektiven Begriffen wie Tradition und dem „mehr-als-nur-Fan-sein“ mystifiziert wird.

Das Gerede von wahrer Spontaneität und Emotionalität im Stadion ist falsch. Die komplexen Gesänge kann niemand mitsingen, der sie nicht schon lange kennt – also Mitglied oder doch zumindest Bewunderer der Ultras ist. Und wer nicht mitsingen will, gar etwas anderes, der soll sich aus der Kurve scheren. Die permanenten Gesänge dienen der Inszenierung der Gruppe, einer narzisstischen Triebabfuhr. Wahre Emotionalität verkörpern noch eher die Fans, die frustriert im Stadion sitzen, wenn ihre Mannschaft verliert, anstatt noch weiter wie von Sinnen vom Sieg zu singen. Das ist aber gleichgültig, denn die Floskeln von der Emotionalität sind Ideologie und Legitimation, um die Regeln des Ultra-Rackets hegemonial werden zu lassen.
Ultras von Olympique Marseille im Cupfinal von 2006 gegen Paris St. Germain.

Bild: Belgische Ultraszene im Match zwischen Standard Lüttich gegen RSC Anderlecht 2015. / Vberger (PD)

Wenn die selbstverwaltete Kurve einmal erreicht ist, ist sie ein Abziehbild der verwalteten Welt draussen. Geklatscht, gesprungen, gesungen wird, wenn es der Capo sagt. Die Schalparade kommt auf Abruf. Die Lieder sind einstudiert und die Jungen denken an die Mahnung der Älteren, deutlich und laut zu singen, damit man sie im ganzen Stadion versteht. Jedes Banner hat hierarchisch seinen festen Platz. Die Choreografien laufen nach einem festen Timing. Verärgert belehrt der Dresdner Capo, man solle sich disziplinieren und die verteilten Kassenrollen erst zum Einlauf der Mannschaft werfen. Auch der Gang zum Bierstand während des Spiels wird beargwöhnt. Die 90 Minuten wird man sich doch einmal zusammenreissen können. Die Inszenierung der Gruppe soll nicht durch die Gelüste des Einzelnen gefährdet werden. Das verwaltete Gangland weitet sich nach Bedarf aus. Die Städte vor und nach dem Spiel verlangen das Wissen mit welchen Vereinsfarben man sich wo genau bewegen darf. Zwischen den Spielen klopft man das Rudel zusammen, wenn sich befeindete Ultras in Schlagweite befinden.

Da ist keine Freiheit, keine Spontaneität mehr – die Ultras multiplizieren im Zeichen des Antiautoritarismus gesellschaftliche Herrschaft und Unfreiheit.

***

Matt Buckner findet sich deshalb nach seiner Erfahrung mit den englischen Hooligans in dieser Welt besser zurecht, weil er gelernt hat, wie sie funktioniert. Genauso lernen es die Ultras. Die Zuspitzung, die sie forcieren, ist längst schon selbst Tendenz der Gesellschaft. Begeistertes Engagement und wahnhafter Einsatz unter absoluter Selbstentäusserung sind nicht nur unter Fussballfans gefragt.

Die Personalabteilungen der Unternehmen warten schon auf junge Abiturienten und Akademiker mit Kompetenzen in den Feldern Durchsetzungsstärke, Kompromissbereitschaft und Innovativkraft. Nicht weil die Ultras dies bewusst hervorbringen, ist das so, sondern weil sie Ausdruck einer Welt sind, die zur Ansammlung der Rackets geworden ist.

Donald Rubin / Artikel aus: mole #2

Fussnoten:

[1] Alle Zitate der Ultra Gruppen stammen aus dem Buch „Die Jugendkulturen der Ultras-Zur Entstehung einer neuen Kultur von Fussballfans“ von Marcus Sommery. Aktuelle Texte zum Selbstverständnis deutscher Ultra Gruppen findet man leider selten. Nichtsdestotrotz sind die Zitate über die einzelnen Gruppen hinaus bestimmende Ausdrücke für das Wesen der Ultras.

[2] Den Zusammenhang von Debrays revolutionstheoretischer Schrift und dem Bandentreiben im Kapitalismus brachte bereits Wolfgang Pohrt auf den Punkt. Er sei nur passenderweise hier nochmals erwähnt.

[3] Zitiert nach Jonas Gabler: Die Ultras-Fussballfans und Fussballkulturen in Deutschland.